Thema des Monats
Schrödingers Katze im Digital Age: Führung 4.0
Tradierte Vorstellungen über Führung sind im Wandel – wieder einmal. Diese Tatsache an sich hat eigentlich keinen Nachrichtenwert, denn die strukturellen Umwälzungen seit den Zeiten der industriellen Revolution haben immer auch zu einer Neudefinition von Arbeitsrollen geführt. Die Veränderungen seit der Jahrtausendwende dürften allerdings zu den radikalsten gehören und ziehen damit ein nachhaltigeres Hinterfragen des Konzeptes Führung nach sich. Ging es in historischen Umbruchphasen immer noch um das “wie”, stellt sich heute die Frage nach dem “ob überhaupt noch”. Flache Hierarchien in Unternehmen, virtuelle Spezialistenteams, die global vernetzt von jedem Ort der Welt aus am Laptop arbeiten – hat Führung in Zeiten dezentraler, räumlich und zeitlich entgrenzter Prozesse ausgedient? Was rückt an ihre Stelle: wird sie durch die Selbstführung einer stetig wachsenden Gruppe selbstständig Arbeitender ersetzt? Was hat es mit Ansätzen wie “evolutionärer Organisation/Führung” auf sich? Sind diese überhaupt neu oder doch nur eine Neuauflage alter Hüte? Diesen Fragen gehen wir in unserem ersten Newsletter nach der Sommerpause nach.
(R)evolutionäre Organisation – ein neuer Ansatz?
Das Schlagwort von der evolutionären Organisation stammt von Frederic Laloux, der historisch an die Frage herangeht. Organisationen und ihre Führung haben sich von traditionell (rigorose top down-Hierarchien) über modern (leistungs-, gewinn- und wettbewerbsorientierte Organisation) hin zu postmodern entwickelt. Im postmodernden Zustand haben Selbstverwirklichung und Beteiligung einen höheren Stellenwert als Status und Einkommen. Dieser Zustand korreliert mit den Erwartungen der Generation Y und der Ablösung von materiellen (Dienstwagen) durch wertorientierte (Potenzialentwicklung) Incentives als Führungsreaktion. Während diese Phase allmählich ausklingt, stellt sich die Frage nach dem Danach.
Laloux' Vorstellung einer “evolutionären Organisation der Zukunft”: kein Konkurrenzdenken, keine Grabenkämpfe, keine zermürbende, frustrierende Arbeit auf den unteren Ebenen, kein Stress, kein Burn-out. Schöne, neue Arbeitswelt? Laloux identifiziert ausgewählte Praktiken dieser Idee und Best Practice-Unternehmen, in denen er diese verwirklicht sieht. Spätestens an dieser Stelle werden alle, die Revolutionäres erwarten, enttäuscht. Selbstführende Teams, Teambesprechungen, Entscheidungsprozesse als Beratungsprozesse, Vertrauen statt Kontrolle – all das ist weder wirklich neu, noch symptomatisch für die Entwicklung eines übergeordneten Organisations- und Führungsbildes. Besprochen werden einzelne Unternehmen (häufig Start-ups), die sich an unterschiedlichen “neuen Wegen” versuchen. Ein stringentes Modell für evolutionäre Führung lässt sich daraus aber noch lange nicht herleiten.
Was kann, was muss Führung können in einer Zeit, in der ihr Sinn in Frage gestellt wird?
Ihre Berechtigung hat Laloux' Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Realität von Arbeitsorganisation aber trotzdem. Denn bei einem genaueren Blick lässt sich feststellen, dass sich zwar die Bedingungen von Arbeit verändern, die klassischen Problemstellungen von Führung aber erstaunlich unverändert sind. Noch immer müssen heterogene Gruppen an der Erreichung übergeordneter Ziele arbeiten, noch immer gibt es unbefriedigende, monotone Arbeitsabläufe, die wenig Entwicklungs- und Selbstverwirklichungspotenzial bieten und daher häufig zu Frust, Erschöpfung und Burn-out führen. Noch immer gibt es Fehlrekrutierungen und –besetzungen und noch immer müssen verschiedene Generationen von Mitarbeitern mit unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen an Arbeit geführt und motiviert werden.
Neu sind eher die verschärften Bedingungen, unter denen diesen Herausforderungen begegnet werden muss. Es sind die Bedingungen des so genannten VUCA-Umfeldes. Das Akronym steht für volatility (Flüchtigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Widersprüchlichkeit) – Faktoren, die Gesellschafts- und Arbeitsforscher im 21. Jahrhundert auf dem Vormarsch sehen.
Schrödingers cat is dead. No, wait...
Unter den 13 Hypothesen, die der Wiener Berater Jan A. Poczynek aus den VUCA-Bedingungen ableitet, findet sich auch diese: “Die Überlagerung von Zuständen – von „richtig UND falsch“ gleichzeitig – ist die neue Norm.” Ein Paradoxon nicht unähnlich dem cat-state der Überlagerung, den Erwin Schrödinger in seinem berühmten Gedankenexperiment zur Anwendung quantenmechanischer auf makroskopische Systeme aufzeigt: die Katze ist gleichzeitig lebendig UND tot.
Die Vernetzung zwischen Menschen untereinander sowie zwischen Menschen und Systemen wird enger. Informationsaustausch findet über Glasfaser-Datenhighways in Echtzeit statt. Persönliche und berufliche Rollen sind schwerer zu trennen. Entscheidungen haben durch all diese Faktoren weitreichende Konsequenzen und können – aufgrund der enormen Geschwindigkeit der Transformationsprozesse und der Unberechenbarkeit der wirkenden Kräfte – tatsächlich exakt oder nahezu zeitgleich richtig und falsch sein.
Während im Handel mit Aktien, anderen Wertpapieren oder Rohstoffen aus genau diesem Grund längst die ausgefeilten Algorithmen von Programmen die Abwicklung von Geschäften übernehmen, entscheiden und arbeiten in Organisationen nach wie vor Menschen. Sie alle stehen vor der Herausforderung, in diesem Umfeld zu bestehen. Auch wenn wir uns fragen müssen, wo uns die Prozesse, welche zu schnell sind, um von uns beherrscht zu werden, in letzter Konsequenz hinbringen. Und was passiert, wenn unsere Flugzeuge und Aktienmärkte so komplex sind, dass sie von Computern bedient werden müssen: die Tatsache an sich und der damit verbundene massive und von vielen Menschen als beängstigend erlebte Kontrollverlust sind längst Realität.
Lösungsansätze müssen nicht gelernt, sondern erarbeitet werden
Poczyneks Beitrag zum Thema ist einer der ehrlichsten, wenn er folgert: “Welche Auswirkungen wird das auf Führung haben? Ehrlich gesagt wissen wir das noch nicht. (…) Also fragen Sie jetzt bitte nicht nach (vorgefertigten) Lösungen. Und trauen Sie auch niemandem, der diese anbietet. (…) Wir suchen noch und treiben in einem rasanten Fluss – am spürbaren Anfang dieses Transformationsprozesses. Halten Sie Ihre Augen offen, bleiben Sie professionell topfit, praktizieren Sie eine Haltung der Achtsamkeit und suchen Sie Ihren eigenen Weg!” Dieser eigene Weg wird unausweichlich viel mit der Person, dem leading self der jeweiligen Führungskraft zu tun haben. Mehr und mehr werden Selbstverständnis, Selbstmanagement, Selbstwirksamkeit, Selbstreflexion und die Fähigkeit, die eigene Handlungs- und Entscheidungskraft trotz des Kontrollverlustes und der Informationsflut aufrechtzuerhalten, zu Schlüsselkompetenzen moderner Führender werden. Gleichzeitig sehen sich diese dem Legitimationszwang, der aus dem Infragestellen von Führung entsteht, ausgesetzt.
Das daraus resultierende Maß an Belastung ist ohne Frage höher als in jedem anderen historischen Transformationsprozess. Es gibt für das, was wir im Moment erleben, schlicht keinen Präzedenzfall, der als Modell herangezogen werden könnte. Dessen sollten sich Führende bewusst sein. Achtsamkeit und Balance sind wichtige Elemente, um diese Herausforderungen zu meistern. Auch Unterstützungsangebote für Führungskräfte und alle, die es werden wollen, sollten wahrgenommen werden, so lange Sie von Ihrem Coach oder Berater keine fertigen Lösungen erwarten. Arbeiten Sie stattdessen mit offenem Verstand gemeinsam an Strategien, deren Erfolg sich im VUCA-Zeitalter erst nach und nach herauskristallisieren wird.
Bei aller verständlichen Beunruhigung liegt darin bei allen Unsicherheits- und Auflösungstendenzen aber auch eine ungeheure Chance. Gerade weil es keine allgemeingültigen Gebrauchsanleitungen mehr gibt und situative sowie personengebundene Entscheidungen und Lösungen unvermeidbar sind, haben Führende einen anderen Gestaltungsspielraum und mehr Möglichkeiten, den eigenen Stil einzubringen.
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